Ich kam gerade in die Schule, als meine Schwester unser Elternhaus verlies. Zu diesem Zeitpunkt waren auch schon meine beiden ältesten Brüder Bernd und Jürgen längst aus dem Haus und lebten in Berlin. Für mich war das damals unglaublich weit weg und dann hieß es eines Tages plötzlich, die beiden sind mit ihren Freundinnen weiter nach Indien gezogen. Unsere Mama schickte manchmal zu Weihnachten eine Linzertorte nach Indien, was die beiden dort genau trieben haben wir Kinder in Schopfheim nie richtig erfahren. Und auch später, als Jürgen mit Pia und ihren beiden Kindern wieder in Schopfheim lebten, waren Berichte über die damalige Zeit eher eine Seltenheit.
Als wir uns Gedanken über unsere Reise machten und darüber grübelten wohin wir eigentlich reisen möchten, machte ich den Vorschlag nach Indien zu reisen. Ich wollte sehen, wo meine Brüder früher gelebt haben. Leider lebt weder Bernd noch Jürgen, Pia und die damalige Freundin von Bernd, Isolde wohnen beide im Norden der Republik und nur von Isolde bekamen wir einige Hinweise über die damaligen Wohnorte.
Am 08. September ist es dann soweit, wir reisen nach Indien ein. Über die Wagha Border kommen wir von Pakistan nach Amritsar, die Stadt der Sikh. Dort akklimatisieren wir uns an Indien, campen 5 Tage in Mrs. Bhandaris Guesthouse, besuchen den goldenen Tempel und dann machen wir uns auf, in das Kullu-Manali Valley. Nach den Angaben von Isolde haben sie dort in einem Dorf names Haripur gelebt. Der Vermieter hieß Bhopram, weitere Informationen haben wir nicht.
Wir erreichen Haripur am frühen Nachmittag, es ist immer noch ein kleines Dorf im Tale des River Beas, ca. 15 km südlich von Manali. Es liegt auf der anderen Flussseite des National Highway 21 und schmiegt sich sanft an einen Berghang. Was nun? Zuerst wollen wir einen Platz zum Campen finden und uns dann auf die Suche nach Bhopram machen, wir fragen zuerst in einem Camp an der Dorfstrasse. Es sieht zwar geschlossen aus, aber es arbeiten ein paar Leute. Die Kommunikation ist schwierig, hier wird nur Hindi gesprochen. Einer gibt uns dann aber zu verstehen, dass wir hier nicht übernachten können. Als nächstes versuchen wir es in einer Cottage Siedlung, auch hier ist es schwierig zu kommunizieren, aber nach mehr als einer Viertelstunde wird der Owner herangeholt und wir erzählen ihm, das wir hier ein paar Leute suchen und, ob wir hier im Garten campen können. Nein, leider nicht, aber wir könnten einen Room für 5.000 Rupie pro Nacht mieten. Nein, das wollen wir doch dann auch nicht und Stefan fragt ihn, ob er hier jemanden kennt, der Bhopram heißt und der vor ca. 35 – 40 Jahren hier ein Haus vermietet hat. Er fragt seinen Angestellten, der aus Haripur stammt und sagt uns dann, dass er einen Bhopram kennt, sein Mitarbeiter würde uns zu seinem Shop bringen, aber wahrscheinlich sei die Kommunikation schwierig, Bhopram würde nur die hiesige Sprache sprechen. Wir könnten ihn dann aber gerne anrufen.
Wow, wir sind überrascht. Die erste Nachfrage schon ein Treffer? Das wäre ja zu einfach. Gespannt gehen wir dem Angestellten hinterher, bis zu Bhoprams Shop sind es zu Fuß vielleicht 10 Minuten. Der Angestellte sagt einige Worte zu einem kleinen Mann mit kurzen grauen Haaren. Stefan flüstert mir zu: “Nein, das ist nicht der Richtige, der ist zu jung.“
Dann wenden wir uns an Bhopram, ich sage zu ihm, dass meine Brüder Bernd und Jürgen hier gewohnt haben, vor vielen Jahren und, dass wir Bhopram, den Vermieter von Bernds Haus suchen und ob er das vielleicht sei.
Er schaut uns eigentümlich an.
„Yes.“
„Bernd and Isolde, Jürgen and Pia. I know them“
Wir sind platt, ein Volltreffer. Wir kriegen eine Gänsehaut. Wir stehen vor dem Mann, bei dem Bernd und Isolde mit meinem Cousin Marcel vor über 35 Jahren gewohnt haben. Ohne Zögern fallen Bhopram die Namen ein, als ob das erst letzten Monat und nicht vor mehr als 3 Jahrzehnten gewesen sei.
„Ich bin die Schwester von den beiden, wir sind hier, um zu sehen, wo die beiden früher gelebt haben.“
Er will wissen, ob Jürgen noch lebt. Dass Bernd bereits 1989 gestorben ist, weiß Bhopram. Als wir ihm sagen, dass auch Jürgen an Ostern 2013 gestorben ist, ist Bhopram sehr betroffen. Er ist gleichalt wie Jürgen.
Wir sollen mitkommen, in sein Haus. Er schließt seinen Gemüse- und Lebensmittelladen und geht mit uns zu seinem Haus, in dem er mit seiner Frau, seiner jüngsten Tochter und seinem ältesten Sohn und dessen Familie lebt. Im Erdgeschoss leben seine Eltern mit seinem jüngsten Brüder und seinen beiden Söhnen.
Das Haus ist direkt neben dem Haus, das er früher an Bernd vermietet hatte. Dort wohnt jetzt die Familie seines Bruders.
Wir bekommen Tee und er stellt uns allen vor. Keine Frage wir schlafen hier. Bhopram räumt sein Schlafzimmer für uns und wir können hier 4 Tage bleiben. Nach dem Abendessen erzählt uns Bhopram viele alte Geschichten, wie es war, als die Hippies aus Europa kamen. Wie das Leben und die Umstände damals im Dorf waren. Er holt ein altes Fotoalbum heraus und zeigt uns Bilder, es ist erstaunlich wie er noch die Namen parat hat. Im Nachbardorf leben noch immer Leute von damals. Mario und Louise, ein deutsch-britisches Pärchen, Nick aus England und eine Schweizerin, die sei aber erst viel später gekommen.
Wir sind ergriffen, hier in der indischen Bergwelt, in dieser Stube Bilder von meinen Brüdern gezeigt zu bekommen.
Bhopram rutscht etwas näher zu uns und fangt leise an zu erzählen, dass er vor zwei Tagen geträumt hätte, dass Isolde und Pia nach Haripur gekommen seien und er aber mit dem Traum nichts anzufangen wusste, bis heute.
Dann schaut er mich lange an und sagt, dass er Bernd in mir erkennt und fragt mich, ob ich weiß wie er gestorben sei. „Nein, nicht richtig“, dann erzählt er uns, was er weiß und das war viel mehr, als ich jemals zu vor gehört hatte.
Spät gehen wir ins Bett, wir sind müde und voller Emotionen. Die Gefühle von heute sind nicht zu beschreiben. Ich bin sehr froh, dass wir hierhergekommen sind.
Am nächsten Morgen warten wir auf Bhopram, um gemeinsam zu frühstücken. Er hat jeden Morgen denselben Ablauf. Nach dem Aufstehen geht er in den Tempel um zu beten und um 30 Minuten Yogaübungen zu machen, dann geht er in den Laden, um sauber zu machen und alles vorzubereiten und dann kommt er zurück zum Haus, um sich zu waschen und dann zu frühstücken.
Heute wollen wir in das Nachbardorf Dasi gehen, Jürgen und Pia hatten dort ein eigenes Haus gemietet, wo sie zusammen mit Chandra, ihrer Tochter gewohnt haben.
Ramesh, Bhoprams Sohn begleitet uns und auch er muss sich ein wenig durchfragen, wo sich das Haus genau befindet. Es liegt am oberen Ortsrand und wie es aussieht, wird es gerade umgebaut. Ramesh ruft am Nachbarhaus und ein junges Mädchen kommt heraus. Es ist die Enkelin von Devi, der Vermieterin von Jürgens Haus. Ihre Oma ist auf der Baustelle und dort treffen wir sie dann.
Sie kommt aus dem Haus zu schlurfen, das Gesicht faltig und braungebrannt, sie trägt viele goldenen Ohrringe und ein Kopftuch. Über ihrem Kleid trägt sie den traditionellen Kullu Shawl mit Karomustern. Sie mustert uns eine Zeit lang und ich sage ihr dann, dass ich die kleine Schwester von Jürgen bin.
Trotz ihrer 81 Jahre kann sie sich sofort an die damalige Zeit und an Jürgen und Pia erinnern. Auch an die kleine Tochter Chandra. Sie half Jürgen damals, das kleine Kind zu versorgen, als Pia in Italien 2 Jahre wegen Drogenschmuggel einsaß.
Sie trägt ihrer Enkelin auf im Haus etwas zu holen und diese kehrt nach kurzer Zeit mit einer Fotocollage zurück. Die alte Frau wischt darüber und schaut es lange an und scheint in Erinnerungen zu schwelgen, sie sagt, dass sie noch einige Jahre lang ab und zu Post und Fotos bekommen hätte, dass das dann aber irgendwann aufgehört hätte. Auch sie möchte wissen, wie es Jürgen geht und ist sehr betroffen als sie erfährt, dass er bereits gestorben ist.
Wir dürfen noch einige Fotos mit ihr machen und verabschieden uns dann von ihr.
Auch hier hatten wir wieder ein bleibendes Erlebnis.
Tags darauf fahren wir mit Ramesh nach Manali. Wir benötigen für die Fahrt nach Leh eine Genehmigung, die wir nur in Manali bekommen und er ist uns bei den Behördengängen behilflich.
Nachdem wir dort alles erledigt haben, trinken wir noch einen Kaffee und auf dem Weg durch die City von Manali machen einen kurzen Stopp in einem Outdoor Shop, da der Eigentümer des Ladens auch aus Haripur ist. Ramesh erzählt ihm kurz, wer wir sind und was wir in Haripur machen, dann sagt uns Sunil, dass er meinen Cousin Marcel kennt. Er und Subhash, Rameshs Onkel hätten immer mit ihm gespielt. Jeder im Dorf wollte mit Marcel spielen, da er ein Fahrrad hatte.
Wir sind wieder platt, wie sich die Menschen hier an die damalige Zeit erinnern können.
Ein Engländer names Nick, der zeitweise immer noch hier wohnt, sei gerade in Leh. Er ist mittlerweile ein bekannter Photograph hier, der viele Bücher, Landkarten und Postkarten über Ladakh veröffentlich hat. Bhopram sagt uns, dass er Bernd und Jürgen auch sehr gut gekannt hat und er in Leh wahrscheinlich im Hotel Oriental abgestiegen ist.
Einige Tage später versuchen wir dort unser Glück und treffen tatsächlich Nick Eakins, nachdem wir zuvor einen anderen Nick aus England in seinem Zimmer im Hotel Oriental mit unseren Fragen überfordert hatten.
Nick ist überrascht und freut sich als wir ihm erzählen wer wir sind und was wir hier machen. Am nächsten Morgen verabreden wir uns zum Frühstück und er erzählt uns eine Menge aus der damaligen Zeit.
Er hat in Thailand geheiratet (not a barmaid)und verbringt jeweils ein halbes Jahr dort und das Andere in Indien.
Ich bin sehr glücklich, die Reise nach Haripur unternommen zu haben und all diese Menschen getroffen zu haben, die so lange Zeit ein Teil des Lebens meiner Brüder waren. Traurig bin ich darüber, dass ich es weder ihnen noch meiner Mama berichten kann.
Hallo Annette,
gerade heute schaue ich rein zufällig auf euren Blog und finde diese Geschichte von deinen Brüdern! Auf dem Foto ist zu sehen wie ihr beide ergriffen seid davon, diese Menschen zu treffen. Ich finde deine Geschichte ganz wunderbar, danke!
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